Ich geb es zu: Ich bin ein Hardcore-Marvel-Fan. Das mag den einen oder anderen dazu veranlassen, mir Befangenheit bei einem Avengers: Age of Ultron Review vorzuverwerfen. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn ich zu den Marvel-Pressevorführungen gehe, sitze ich jedes Mal aufs Neue im Kinosessel und denke: “Es kann nur schlechter werden. Irgendwann kommt der Punkt, an dem sie es gehörig verkacken.”
Großes Erbe, große Erwartungen
Das Cinematic Universe ist ein beispielloses Unterfangen der Filmgeschichte. Nie zuvor wurde ein erzählerisches Konstrukt erschaffen, das über derart viele einzelne Handlungsstränge (der jeder für sich schon genügend Potential für ein eigenes Franchise bietet) miteinander verwoben ist.
Im Fall der Forsetzung des bisher erfolgreichsten aller Superhelden-Streifen aus dem Hause Marvel sind die Erwartungen natürlich dementsprechend groß. The Avengers war in der Rezeption des Cinematic Universe ein Urknall. Der erste Iron Man war gut, Der unglaubliche Hulk war eine Katastrophe. Neben Iron Man 2 folgten Thor und Captain America: The First Avenger, die alle ordentlich waren, aber noch nicht erahnen ließen, was Studioboss Kevin Feige sich da eigentlich genau ausgedacht hatte. Die Leistung, die Joss Whedon mit The Avengers erbrachte, war, dem Publikum die wahre Genialität des Konzeptes eines Cinematic Universe zu offenbaren. Erst mit der Vereinigung von Iron Man, Thor, Captain America und Hulk wurde klar, wie sehr die Dramaturgie der einzelnen erzählerischen Fäden zusammenläuft - auch wenn sie sich unabhängig entwickeln und zwischenzeitlich sogar voneinander zu entfernen scheinen. Das weitaus Wichtigste war aber, dass Whedon und Mark Ruffalo dem Hulk seine Integrität zurückgaben. Als ambivalanteste und zugleich mächtigste aller Figuren des Marvel-Universums birgt der moderne Dr. Jekyll und Mr. Hyde das größte pyschologische Potential, und auch wenn es in The Avengers bei weitem nicht ausgeschöpft wurde, so gab Ruffalo seinem Charakter zumindest die Glaubwürdigkeit wieder.
Doch zurück zu Avengers: Age of Ultron. Seit dem ersten Zusammentreffen der Superhelden ist viel passiert. Sowohl Tony Stark als auch Thor und Steve Rogers mussten in ihren Solo-Abenteuern existentielle Krisen bewältigen. Die Leichtigkeit der ersten Phase des MCU wich einer Damokles’schen Düsternis, die in der Zerschlagung des moralischen Bollwerks S.H.I.E.L.D. in The Return of the First Avenger gipfelte. Avengers: Age of Ultron knüpft nahtlos an der Mid-Credit Scene des zweiten Captain-America-Films an, in der wir gesehen haben, wie der Hydra-Wissenschaftler Wolfgang von Strucker Lokis Zepter studiert und Experimente mit zwei übernatürlichen Wesen anstellt, die von ihm nur “die Zwillinge” genannt werden.
Von 0 auf 100
Ich sitze nun also im Kinosessel und erwarte das Schlimmste. Ich kann nur erahnen, was für einen Druck Joss Whedon angesichts Millionen hungriger Fanboys und -girls weltweit verspüren muss, wenn er antritt, sein eigenes filmisches Erbe zu übertreffen. Wahrscheinlich wird er sich gesagt haben, dass es nur einen Weg geben kann: voll auf die Zwölf. Denn die Anfangssequenz von Avengers: Age of Ultron ist genau das. Die komplette, mehrminütige Szene kommt ohne einen einzigen Schnitt aus und ist so perfekt choreographiert, dass mir schwindelig wird. Die wilden Kamerafahrten scheinen die Grenzen der Leinwand zu sprengen und holen mich sofort aus meinem selbst auferlegten Pessimismus ab. Voller Euphorie und innerlichem Jubel schaue ich dabei zu, wie die Avengers die Hydra-Forschungseinrichtung zerlegen und Lokis Chitauri-Zepter an sich nehmen. Dass “die Zwillinge” Quicksilver und Scarlet Witch eine besondere Rolle im Film einnehmen werden, wird ebenfalls schnell klar - sie stellen sich den Avengers zunächst in den Weg, entscheiden sich dann jedoch für einen taktischen Rückzug. Doch dazu später mehr.
Deus ex machina vs brachiale Naturgewalt
Zurück im Avengers Tower untersuchen Bruce Banner und Tony Stark, ihres Zeichens die Geeks des Teams, das Zepter und stellen fest, dass diesem eine künstliche Intelligenz innewohnt, die sogar die Kapazitäten von Starks Software-Kumpel J.A.R.V.I.S. übertrifft. Stark überredet Banner, diese zu nutzen, um die mächtigste KI zu erschaffen, die jemals die Welt der Nullen und Einsen erblickt hat: Ultron. Zum Schutze der Menschheit, versteht sich. Doch wie es mit Dei ex machina nun mal so ist, erweisen sie sich meist als Büchse der Pandora, und so kommt es, wie es kommen muss. Ultron entwickelt ein Eigenleben und erkennt die Menschheit selbst als größten Feind ihrer selbst, allen voran die über allen Regeln stehenden Avengers.
Als mächtige Verbündete Ultrons im Kampf gegen die Superhelden-Supergroup stellen sich die Hydra-Zwillinge heraus. Insbesondere Scarlet Witch zündelt mit ihren Mindtricks gefährlich nahe an dem leicht entflammbaren gruppendynamischen Geflecht aus Loyalität, Vertrauen und Teamgeist. Dass Bruce Banner für diese Zündeleien besonders empfänglich ist, dürfte niemanden verwundern, führt aber zu der meiner Meinung nach epischsten Kampfsequenz aller bisherigen Marvel-Filme. Als Iron Man seinen Hulkbuster-Anzug auspackt, um den außer Kontrolle geratenen Hulk zu bändigen, versinke ich angesichts der vollkommen absurden Kraft des grünhäutigen Mr. Hyde voller Ehrfurcht in meinem Sessel. Spätestens hier sollte jedem klar sein, dass der Ruffalo-Hulk nichts mit dem todlangweiligen, hohlen CGI-Monster in der Version Edward Nortons zu tun hat. Seine Mimik ist vielschichtig und zugleich die reine Wut. Er ist der brachiale, natürliche Gegenpol zu Ultrons kühl-berechnender Rationalität. Großartig.
Popcorn, süß und salzig
Ich verzichte an dieser Stelle auf weitere Ausführungen zur Handlung, denn natürlich ist klar, worauf das Ganze hinausläuft. Avengers gegen Ultron, Gut gegen Böse. Die Handlung mag manch einer als trivial empfinden, ich nenne sie lieber konsequent. Viel interessanter ist, was Whedon aus dem Konflikt macht, und das ist nichts Geringeres als eine geschickte Allegorie auf die Frage, wie weit uns unser Bedürfnis nach Sicherheit treiben darf. In Zeiten wie diesen keine uninteressante Frage. Wann kommen wir in unserer technologischen Entwicklung an den Punkt, wo wir die Geister, die wir riefen, nicht mehr loswerden? Stark, der ehemalige Militärindustrielle, manövriert die Erde mit seiner Angst vor abstrakten Gefahren in die sehr konkrete Gefahr ihrer Auslöschung.
Trotz dieser für einen klassischen Popcorn-Movie erstaunlich relevanten Fragestellung bewahrt Joss Whedon in Avengers: Age of Ultron jederzeit die für ihn typische Portion Humor und Selbstironie. Ich habe mittlerweile einige Kritiken zu dem Film gelesen und kann die zahlreichen Klagen über diesen letzten Rest Leichtigkeit nicht nachvollziehen. Natürlich ist Age of Ultron nicht so düster wie z. B. The Return of the First Avenger, aber das ist auch gut so. Ein Projekt mit diesem Ausmaß geballter Superhelden-Power würde zu einer Karikatur seiner selbst werden, wenn es sich zu ernst nähme. Ich sehe dadurch weder den von vielen Seiten geforderten Tiefgang gefährdet, noch schadet es der mittlerweile zum guten Erzählton gehörenden Ambivalenz der Helden. Age of Ultron ist Popcorn, aber süß _und_ salzig. In dieser Phase des Marvel Cinematic Universe ist es genau der richtige Avengers-Film zur richtigen Zeit. Wir werden sehen, was für ein Bild die Russo-Brüder in Avengers 3 und 4 zeichnen werden. Ihr Ansatz aus The Return of the First Avenger gibt uns zumindest schon eine Vorahnung.
Again and again
Was bleibt mir noch zu sagen? Als der Abspann läuft, sitze ich erleichtert und glücklich in meinem Kinosessel. Marvel did it again. Sie haben es nicht verkackt. Ich bleibe natürlich bis ganz zum Schluss sitzen, doch wie bei Pressevorführungen mittlerweile üblich, gibt es noch keine Post-Credits-Scene. Die ist dem breiten Publikum vorenthalten. Doch das ist okay. Es war sicher nicht das letzte Mal, dass ich mir den Film anschaue.