Nachdem ich neulich die Frage erörtert habe, warum es eigentlich keine guten TV-Serien aus Deutschland gibt, möchte ich heute ein Thema auf den Tisch bringen, das nahtlos daran anknüpft: die zentrale Rolle des Drehbuchs im Produktionsprozess.
Created by…
Es mag banal klingen, aber ich sag es dennoch gerne: auf dem Drehbuch basiert einfach alles. Es ist das Grundgerüst, das Skelett der Fiktion, während alles andere (Besetzung, Produktionsdesign, visuelle Ästhetik, Kameraführung etc.) das Fleisch ist, welches die Knochen umgibt. Gib das Skript fünf unterschiedlichen Regisseuren in die Hand, und du erhältst fünf unterschiedliche Filme - oberflächlich betrachtet. Doch die Idee, die Geschichte, die Emotionen, dieser eine zündende Moment, der dir einen Kloß im Hals macht oder dich hysterisch gackern lässt - das ist das Werk des Autoren, der die Story erdacht hat. “Created by…” heißt es immer so schön im Vorspann. Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen. Der Autor ist der Schöpfer der fiktiven Welt. Er erschafft sie in Form des Drehbuchs.
Schändlicherweise wird die Bedeutung des Drehbuchs und die Rolle der Autoren nach meinem Dafürhalten hierzulande unterschätzt (wie ich hier bereits darlegte). Was kann man dagegen tun? Ganz einfach: Man muss die Rolle der Drehbuchautoren stärken. Doch wie? Lasst mich dazu etwas weiter ausholen:
Ist ein Drehbuch Literatur?
Das Drehbuch ist ein Film auf Papier. Entgegen vieler anders lautender Meinungen bin ich jedoch sogar der Auffassung, dass Drehbücher gleichzeitig auch Literatur sind. Und zwar eine überaus unterschätzte Form. Während meines Studiums der Literaturwissenschaft musste ich mich durch den üblichen Kanon der Texte ackern: Lyrik, Erzählungen, Romane, Novellen, Dramen. Das Drama galt früher als die Königsdisziplin aller Erzählformen. Es ist dafür bestimmt, auf der Theaterbühne zum Leben erweckt zu werden. Und doch ist es gleichzeitig Literatur, Bestandteil der Literaturwissenschaft und auf dem Lehrplan unzähliger Generationen von Schülern, die im Klassenzimmer in verteilten Rollen die großen Dramen von Schiller, Goethe, Büchner, Sophokles und Co. zitierten. Ich habe es im Laufe des Studiums aber kein einziges Mal erlebt, dass mich jemand dazu aufforderte, ein Drehbuch zu lesen.
Wie kommt es nun also, dass das Drehbuch als Literaturform quasi nicht existent ist? Ich kann es mir nicht erklären. Als ich vor einigen Jahren damit anfing, mir Drehbücher einiger meiner Lieblingsserien- und Filme zu besorgen, war ich fasziniert: es ist eine sehr intuitive Form der Leseerfahrung, die formal und stilistisch wie kein anderes Textmedium dazu geschaffen ist, einen inneren Film im Kopf des Lesers zu erzeugen. Diese Erkenntnis ist so trivial wie bahnbrechend - sofern man die richtigen Schlüsse daraus zieht. Trivial, weil ein Drehbuch nun mal ein Drehbuch ist, d. h., es ist ein Text, dessen Aufgabe es ist, einen Film in Schriftform festzuhalten. Und das macht es wirklich gut. Bahnbrechend, weil es einen Paradigmenwechsel darstellt, ein Drehbuch als “vollwertige” Literatur zu betrachten.
Pragmatischer Minimalismus
Ein Drehbuch ist reduziert auf das absolut Wesentliche: Dialoge, Szenenbeschreibungen, Szenenüberschriften (z. B. Angaben wie “INT.” und “EXT.”, also “Innen” und “Außen”). Keine ellenlangen geografischen Beschreibungen und Lagepläne à la Dan Brown, kein Abschweifen, sondern pure Handlung und Interaktion. Das Drehbuch rückt, genau wie das Drama, die handelnden Figuren in den Mittelpunkt und erzählt in einer naturgemäß sehr bildhaften Weise die - streng genommen - als Film (oder Serie etc.) konzipierte Story.
Was in der traditionellen Literaturwissenschaft als Schwäche angesehen wird, nämlich, dass ein Drehbuch eben ein Buch zum Drehen eines Films ist, kann ebenso gut als Stärke verbucht werden. Spinnt man den Gedanken weiter, könnte man sogar behaupten, es ist die Form der Literatur, die den medialen Konsumgewohnheiten des heutigen Lesers am nächsten kommt: es ist klar, knapp, präzise, bildhaft. Ein Drehbuch für eine 25-minütige Episode einer Serie zu lesen, dauert kaum länger als 25 Minuten - wenn man sich Zeit lässt! 30 bis 40 Seiten fasst solch ein Skript im Schnitt, für einen Neunzigminüter kommt man auf ca. 120-150 Seiten.
Ich glaube, ein wichtiger Grund für die schwächelnde Verlagsbranche ist, unter einigen anderen Verfehlungen wie z. B. der teilweise absurden Preispolitik für E-Books, dass vielen Menschen einfach die Zeit dafür fehlt, zu lesen. Auch das hört sich trivial an - und ist doch so wichtig. Der Literaturbetrieb muss sich, wie jede andere Kunstform auch, der Gegenwart anpassen. Und damit meine ich nicht nur den wirtschaftlichen Aspekt, sondern auch und vor allem den kulturellen. Selbstverständlich muss und wird es weiterhin dicke Schmöker und mehrere hundert Seiten starke Romane geben. Was ich fordere, ist nichts anderes, als die Gattung “Drehbuch” als lesbare und lesenswerte Literatur anzuerkennen, die vor allem im Stande ist, eines zu leisten, das der traditionellen Literatur oft abgeht: den Kino- und TV-affinen Konsumenten anzulocken. Es ist eine sinnvolle Ergänzung, eine ungenutzte Nische.
Der direkte Weg zum Publikum
Kommen wir nun also zurück zu meiner anfänglichen These: wir müssen die Rolle der Drehbuchautoren stärken. Vorbei an den verstaubten Strukturen, den Dogmen, direkt zum Zuschauer und - Leser! Ich behaupte, wenn eine genügend große Anzahl an Lesern bereits begeistert das Drehbuch gelesen hat, dann haben die Controller, Programmchefs und Erbenszähler keine andere Chance, als das Skript genau so umzusetzen, wie es das Publikum bereits kennt. Natürlich darf man jetzt nicht den Fehler machen und versuchen, einen Verlag zu finden, der das Risiko eingeht, ein Drehbuch auf den Markt zu bringen. Das wird nicht funktionieren. Aber, hey - wir leben im Zeitalter des Internets und der E-Book-Reader. Über Programme wie Amazons Kindle Direct Publishing kann man unkompliziert und ohne Kosten sein Werk veröffentlichen und erreicht damit eine Zielgruppe, die es gewohnt ist, Medien digital zu konsumieren, übers Netz. Womöglich bilden diese Leser gar eine Schnittmenge mit dem Typus Mensch, der seine Serien lieber streamt als darauf zu warten, was das Fernsehen ihm vorsetzt.
Ich weiß nicht, ob dieses Modell eine breite Akzeptanz finden wird. Ich weiß nur, dass es logisch klingt. Und ich weiß, dass ich es leid bin, darauf zu warten, dass sich was ändert. Ich habe seit über einem Jahr ein fertiges Konzept für eine Serie in der Schublade, dessen Figuren mir so ans Herz gewachsen sind, wie sie einem Autor nur ans Herz wachsen können. Das Pilot-Skript ist ebenfalls bereits abgeschlossen. Ich möchte dieses Experiment wagen, denn ich glaube an meine Geschichte und an meine Idee, wie ich die Geschichte zu euch bringen kann - ohne die Hilfe eines Senders oder Verlags. Denn diese Hilfe wird nie kommen, weil es eben eine Story ist, die es auf dem konventionellen Weg niemals ins Fernsehen schaffen wird. Und wisst ihr was? Gerade das macht mich äußerst zuversichtlich.
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Anmerkung: Dieser Beitrag ist Teil des folgenden Gedankengangs:
Warum es keine guten TV-Serien aus Deutschland gibt
Manifest eines Verrückten