“Hallucinate in High Fidelity”: Nine Inch Nails – Hesitation Marks

Nine Inch Nails Hesitation Marks

Er hat es wieder getan: Nach fünf (!) Jahren Pause hat NIN-Mastermind Trent Reznor endlich wieder ein „richtiges“ Nine Inch Nails-Album aufgenommen – das Protokoll einer Rückkehr.

Andere Sphären

In der Zeit seit dem letzten Album hat Reznor eine ausladende Kreisbewegung vollzogen: Einmal weg vom NIN-Mutterschiff und wieder zurück – mit jeder Menge frischen Impulsen an Bord. Nach dem dystopisch-politischen Konzeptalbum „Year Zero“ [2007] lief der Majorvertrag mit Interscope aus. Für Reznor offenbar eine immense Erleichterung, denn im Jahr darauf veröffentlichte er in einer Art Befreiungsschlag unangekündigt zwei mutige Platten: die meisterhafte, düster-ambientige Instrumentalskizzen-Sammlung „Ghosts I-IV“, die übrigens unter Creative Commons-Lizenz läuft, und das schmutzig-rohe Studioalbum „The Slip“. Zweiteres sorgte medial für viel Furore, da Reznor die Platte komplett ohne Promotion für umme zum unbegrenzten Download zur Verfügung stellte.

Und dann war plötzlich Schluss mit Nine Inch Nails. Reznor ließ offen, ob er das Projekt nur ruhen lassen oder es komplett aufgeben würde. Stattdessen arbeitete er gemeinsam mit Produzent Atticus Ross an den Soundtracks zum Facebook-Film „The Social Network“ [2010] und der Stieg Larsson-Verfilmung „Verblendung“ [2011].

Gleichzeitig schien der alte Narziss seine Yoko Ono gefunden zu haben: 2009 hatte Reznor die schwindelerregend hübsche Sängerin Mariqueen Maandig geheiratet und mit ihr gemeinsam das Projekt „How To Destroy Angels“ (HTDA) ins Leben gerufen. Hier überließ der eigentlich als Kontrollfreak und Egomane bekannte Tausendsassa seiner Herzdame den Platz im Rampenlicht: Ihre abwesende, perfekte Elfenstimme begleitet er nur ganz gelegentlich mit kleinen Gesangseinsprengseln. Die Musik dazu, die Reznor ebenfalls zusammen mit Atticus Ross erarbeitete, ist eine ruhigere, sphärischere Variante des Nine Inch Nails-Sounds. HTDA durchdringt das dunkelgraue Niemandsland zwischen Industrial, Downbeat und Trip-Hop. (Unbedingt anschauen: das Video zu „The Space In Between“!) Im „HTDA“-Kosmos wie bei den Filmsoundtracks baut Reznor seine Vorliebe für Tiefe und Dunkelheit aus – und verdrängt mehr und mehr die brutale „I want to fuck you like an animal“-Stahlstanzen-Härte und Kaputtheit, die in den 90ern noch konstituierend für seinen Sound war.

Alte Narben – neue Wunden

Mit „Hesitation Marks“ dockt Reznor organisatorische jetzt wieder da an, wo er 2007 aufgehört hatte. Die Platte erscheint bei einem Majorlabel (dieses Mal ist es Columbia) zu einem handelsüblichen Preis und mit standesgemäßer Promotion – vorbei die Zeit der Creative Commons-Experimente und Netzguerilla-Promo. Auch thematisch kehrt Reznor zu seinem Markenkern zurück: Der Titel „Hesitation Marks“ bezieht sich auf die sogenannten „hesitation wounds“ – oberflächliche Verletzungen, die sich Selbstmörder zum „Antesten“ der Klinge zufügen, bevor sie tatsächlich zur Tat schreiten. Suizid, Selbstverletzung, Verzweiflung und Depression also – Gott sei Dank, ich dachte schon, Mr. Reznor wäre geheilt!

Doch ganz so fixiert auf die Abgründe von Reznors Psyche wie „The Downward Spiral“ [1994] oder „The Fragile“ [1999] ist „Hesitation Marks“ dennoch nicht. Der Titel “Satellite“, in dem sich Reznor verbal mit einem Überwachungssatelliten anlegt, lässt die verschwörungstheoretische Gedankenwelt von „Year Zero“ wieder aufblitzen und wirkt eher angriffslustig. Sehr irritierend kommt „Everything“ daher: ein uptempo-“four-to-the-floor“-Smasher in Dur, in dem es um Überleben, Heimat und Neuanfang geht. Isoliert betrachtet erinnert dieser Track an die misslungene Shiny-Happy-Phase von Billy Corgans Krampflächel-Experiment „Zwan“. Igittigitt … Zum Glück bleibt Reznor ansonsten seiner gewohnten Geschmacksrichtung treu und entwickelt diese auf beeindruckende Weise weiter. In den übrigen Songs geht es um Besessenheit („Came Back Haunted“), Einsamkeit („Find My Way“) – und erstaunlich viel ums Aufgeben und Egalsein. Das Album beginnt mit den Zeilen: „I am just a copy of a copy of a copy – everything I say has come before“ („Copy Of A“). Findet sich da etwa einer auf seine alten Tage damit ab, dass er nicht der dunkle Messias ist? Kaum zu glauben, doch die Indizien verdichten sich. Im fantastisch sehnsüchtigen „Various Methods Of Escape“ konstatiert Reznor: „I think I could lose myself in here“ – und es klingt, als hätte er große Lust dazu. Darf ich mitmachen?

Industrial mit Hüftschwung

Aber „Hesitation Marks“ schwelgt nicht bloß im Downbeat. Im Gegenteil: Das Album groovt über weite Strecken wie Hölle. An die Stelle der alten Breitwand-Brachialität ist ein tanzbares, rhythmusorientiertes Grundgefühl getreten. Tracks wie „Copy Of A“, „Came Back Haunted“ oder „Sattelite“ sind durchwirkt mit einem fast sexy pulsierenden Hüftschwung-Gefühl. In „All Time Low“ gibt es funkig-soulige Stellen mit Falsettgesang, die auch auf Becks „Midnite Vultures“ nicht fehl am Platz wären – und dann bricht doch wieder der düstere Post-Industrial-Sound ein. Nächtliche, euphorisierende Beats und Bässe stehen auf dieser Platte deutlich im Vordergrund. Klar, trotzdem ist „Hesitation Marks“ voller spannender und innovativer Synth- und Gitarrensounds – wir sprechen hier schließlich von Nine Inch Nails. Aber die Harmonieinstrumente wirken ausgewählter, minimalistischer, ja: klüger eingesetzt als auf den älteren Alben.

Ganz augenscheinlich hat Trent Reznor während seiner Auszeit gelernt, seine überschäumenden Klangfantasien zu zügeln und sich selbst zugunsten der jeweils vorliegenden Songsubstanz zurückzunehmen. Die Lieder sind weniger struppig und sperrig arrangiert und dadurch längst nicht mehr so von sich selbst überwuchert. Und: Reznor flirtet heftiger denn je mit dem Pop – nicht nur mittels erotisierter Grooves, sondern genauso sehr in Form von zartschmelzenden, sehnsuchtsvollen Melodien, die immer mal wieder einen bittersüßen Lichtstrahl in die Dunkelheit seiner Lieder werfen. Der Sound von „Hesitation Marks“ ist extrem knackig, transparent und modern – definitiv was für Klangfetischisten! Für ebenjene gibt es auch noch ein begrüßenswertes Schmankerl: Wer das Album kauft (physisch oder digital), bekommt dazu einen Downloadlink, unter dem eine alternative „audiophile“ Version herunterladbar ist, die entgegen dem gegenwärtigen Trend auf Dynamik und Detailreichtum statt auf Maximalpegel gemastert wurde.

Fazit

Hesitation Marks“ könnte – sieht man über das verunglückte „Everything“ hinweg – locker das beste Nine Inch Nails-Album aller Zeiten sein. (Härtester Konkurrent um den Thron: „The Fragile“ natürlich!) Zusätzlich zum grandiosen Songmaterial gelingt es Reznor, der als 90er-Industial-Ikone ja im Grunde längst auch in irgendeiner Vitrine in der Rock’n'Roll Hall Of Fame den wohlverdienten Staub der Musikgeschichte sammeln könnte, seinen Sound wegweisend und zeitgemäß upzudaten, ohne anbiedernd zu wirken. Hier zeigt sich, dass eine Kunstpause und das Stöbern in neuen Gefilden selbst einem alten Hund wie Trent Reznor einen derben Kreativitätsschub bescheren kann. Wow. Echt jetzt!

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Offizielle Website von Nine Inch Nails

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