Den klassischen Orchestern stirbt das Publikum weg, und auch Nachwuchsmusiker sind eher rar. Selbst hochkarätige Ensembles spielen vor teils leeren Logen. Klassik-Freunde sind alarmiert – geht jetzt die Zivilisation unter? Mir dagegen geht das alles zu schleppend. Können die nicht schneller sterben? Die Zivilisation würde sehr davon profitieren.
OK: sollte es geben dürfen
Nicht falsch verstehen. Ich habe nichts gegen klassische Musik. Also, eigentlich schon. Aber eher auf die Art, wie ich ein Problem mit Fashion-Victims, Christen und FDP-Wählern habe. Ich mag sie nicht und gehe instinktiv davon aus, dass sie schlechte und dumme Menschen sind. Aber meistens bin ich doch so großherzig, ihre Existenz zu akzeptieren. Und genau so ist das mit klassischer Musik. Warum sollte es sie nicht geben?
Es ist nicht zu leugnen, dass die Klassik ein wichtiger Teil der kulturellen DNA unserer Zivilisation ist. Ohne Bach keine Beatles, ohne Mozart kein Muse. So wie Homo erectus ein wichtiger Zwischenschritt in der Entwicklung des Menschen war. Dessen gilbende Gebeine aber findet man zu Recht im Museum, genau wie Renaissance-Gemälde und zerbrochene antike Vasen. Die Vergangenheit ist interessant, um die Gegenwart zu erklären. Und, ja, manches Vergangene hat eine besondere Aura, weil es alt ist. Kulturelle Erzeugnisse vergangener Zeiten, die sich durchgesetzt haben, besitzen oft eine ganz besondere, eigene Ästhetik und sind es wert, aufbewahrt und ab und an betrachtet zu werden, keine Frage.
Klar ist auch, dass Musik nicht in einer Glasvitrine aufbewahrt werden kann. Um sie zu erhalten, muss sie gespielt werden – der Vergleich mit Gemälden hinkt von daher. Die Mona Lisa muss nicht jedes Mal gemalt werden, wenn man sie sehen will. Eine Best of Beethoven-CD kann ein Konzert nicht ersetzen, genau wie ein Foto von einem Gemälde nicht das gleiche ist wie das Gemälde selbst. Deshalb ist klar: Klassische Orchester machen Sinn!
Zweiklassenmusik – ein elitäres und dummes Konzept
Aber. Tief einatmen, sachlich bleiben. Das Problem besteht in der elitären Attitüde der Klassik-Szene und ihrer Verhätschelung durch die Kulturpolitik. Noch heute wird zwischen „E-Musik“ und „U-Musik“ unterschieden - „E“ wie „ernsthaft“ (Klassik & Jazz) versus „U“ wie „unterhaltend“ (Pop, Rock, Hiphop, Elektro und das ganze restliche Gesocks). Und diese Unterscheidung ist nicht bloß ein Werturteil, sie hat auch ganz konkrete finanzielle Auswirkungen: E-Musik wird von der GEMA deutlich höher vergütet als U-Musik.
Ein Orchesterklarinettist sagte mal zu mir, für ihn seien nur Leute mit klassischer Musikausbildung wirklich „Musiker“, alle anderen (also auch ich als nicht notenlesender Gitarrist) seien nur „Musikanten“. Klassische, sogenannte „E-Musik“ wird noch heute von ihren Vertretern so hingestellt, als sei sie die eigentliche Musik für diejenigen, die Ahnung haben. Gourmet-Menü statt Currywurst: Hier finden sich Niveau, Kultur und Relevanz. Seufzend und kopfschüttelnd akzeptieren Kulturpolitiker und Rundfunkräte, dass man anderthalb Augen zudrücken und den Kinderchens ihren Spaß mit diesem neumodischen, geistlosen Krach aus dem Radio lassen muss – spielt schön, wir Erwachsenen machen hier derweil Kultur!
Klassische Musik heißt Wiederkäuen von tausendmal Verdautem
Das Gegenteil ist der Fall. Dadurch, dass sich die große Mehrheit der klassischen Musiker überwiegend mit Stücken auseinandersetzt, die um die 200 Jahre alt sind, hat die klassische Musik heute jede kulturelle Relevanz verloren. Die sitzen da und finden Jazz nach wie vor progressiv. Facepalm! Klassische Musik köchelt selbstzufrieden in ihrem eigenen Saft und reproduziert immer wieder das gleiche gefällige Geplätscher (Johann Sebastian Bach) und den gleichen hirnlosen Nazi-Bombast (Richard Wagner). Manchmal kann man zudem bei Klassik- Freunden sogar das Gefühl bekommen, dass es weniger um das Erlebnis der Musik an sich geht als um das gute Gefühl, kultivierter zu sein als der ignorante Rest der Menschheit.
Eine Geige aber ist im Kern ein Holzkasten, der mit Hilfe von Pferdehaaren (!) zum Schwingen gebracht wird. Dieses Prinzip ist, zugegeben, eine Entwicklungsstufe über der Tierfelltrommel, auf die Homo erectus rhythmisch mit seinem Knochenklöppel eindrosch, aber eben auch schon 400 Jahre alt. Die Geige kann dementsprechend mit einem elektrisch verstärkten Synthesizer einfach nicht mithalten – weder was Klangvielfalt angeht, noch in Bezug auf Lautstärke. Deshalb gibt es für klassische Konzerte riesige, akustikoptimierte Räume und ein Publikum, das indigniert „Pssssst!“ macht, wenn man sich schneuzt. Das ist ineffizient und irgendwie niedlich. So, als würde man 2015 Soldaten mit Degen losschicken, um ISIS aufzuhalten. Und wer (wie ich damals im Zivildienst) schon mal nach einer Orchesterprobe den Boden wischen musste, weiß, dass Blechblasinstrumente zudem extrem ekelhaft sind: Jeder Musiker hinterlässt eine suppentellergroße Spuckepfütze unter seinem Stuhl. Sehr kultiviert.
Kultur ohne Reibung ist Zerstreuung
Ein wichtiges Merkmal von kultureller Relevanz ist Reibung. Kunst im weitesten Sinne wird dadurch wirksam, dass sie Stellung bezieht, irritiert und provoziert. Kultur ist dazu da, sich einfach mal weit aus dem Fenster zu lehnen und ein Statement rauszuhauen, mit dem sich andere auseinandersetzen können. So entstehen Diskurse, so werden produktiv gesellschaftliche Konflikte deutlich gemacht und ausgetragen. Klassische Musik tut leider keinem weh. Die Stücke, die den Zahn der Zeit überstanden haben, sind so fraglos als wichtig und hochwertig akzeptiert, dass man gar nicht mehr drüber reden muss. Gefälliges Nicken im ganzen Publikum, war das nicht fantastisch! Noch ein Canapé?
Und das ist genau der Grund, warum klassische Musik mittlerweile die eigentliche U-Musik ist. Sie ist Zerstreuung und Unterhaltung für Menschen, die zu faul, zu dumm oder zu uninspiriert sind, sich einen eigenen Pfad durch das Dickicht zeitgenössischer Musik zu schlagen. Wer sich ernsthaft mit den verschiedenen Sparten aktueller Musik auseinandersetzt, stellt fest, dass hier die wichtigen Themen unserer Zeit thematisiert, Identitäten geformt und spannende Konzepte entwickelt werden. Klar, das meiste, was auf Platte rauskommt, ist Mist. Aber auch im Jahr 1811 wurde mit Sicherheit jede Menge Scheiße komponiert und aufgeführt – die kennen wir halt heute nicht mehr, weil sie auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist.
Runter vom “E”-Podest!
Klassische Musik sollte es meinetwegen in einer pluralistischen Gesellschaft geben dürfen, genau wie Schützenvereine, FDP-Wähler und Christen. Aber sie hat das Podest, auf dem sie steht, schon lange nicht mehr verdient. Im Gegenteil: Ihre Hörer gehören in die Schäm-Ecke, zu den Sammlern von Nazi-Uniformen und den Gala-Lesern. Und die riesigen Geldmengen aus staatlichen Kulturetats, die zum Erhalt von barocken Konzertsälen und zur Arschpuderung elitärer Orchestermusikanten Jahr für Jahr rausgehauen werden, wären bei jungen „U“-Musikern deutlich besser investiert. Der Rückgang der Zuhörerzahlen und die Nachwuchssorgen der Orchester sind kein Problem, sondern eine längst überfällige logische Folge aus der selbst verschuldeten geistigen Erstarrung dieser Musiksparte.
Drücken wir anderthalb Augen zu und lassen Omi und Opi ihren Lebensabend zu den immer gleichen Klängen von Haydn und Mozart vergeuden, wenn es sein muss. Aber es ist höchste Zeit, das Konzept von E- und U-Musik abzuschaffen und zu erkennen, dass Kultur den Menschen insgesamt gehört, nicht den ewiggestrigen Bürgereliten.
Dieser Text ist zuerst im großartigen SLEAZE Magazin veröffentlicht worden und erscheint hier in leicht abgeänderter Form, weil sich die blöde Realität immer noch nicht gändert hat. Obwohl ich einen Artikel geschrieben hatte! Pfff. Danke für die Erlaubnis, ihn hier nochmal zu publizieren!