“Traumjob: Diplom-Pseudologe.”
Ich muss Sie warnen. Sollte die Menschheit eines Tages kurz vor dem Ende sein, bin ich vollkommen nutzlos. Stellen Sie sich vor, 99% der Weltbevölkerung würden durch ein aggressives Virus dahingerafft. Der klägliche Rest führt eine Bestandsaufnahme durch: Wer hat nützliche Fähigkeiten? Gibt es besonders wertvolle Mitglieder der post-apokalyptischen Gemeinde? Ärzte, Ingenieure, Mechaniker, Handwerker, Landwirte, Prostituierte? Ich bin Künstler. Ich glaube, das Letzte, was die Menschheit braucht, wenn es um wirklich wichtige, quasi existentielle Fragen geht, ist ein Künstler. Zugegeben, ich vermute Rechtsanwälte, Versicherungsvertreter und Kosmetikerinnen gehören auch nicht zu den besonders nachgefragten Professionen, aber in der Top 10 der nutzlosesten Kreaturen unter uns steht der Künstler sicherlich ganz oben.
Es ist ja nicht so, dass ich es nicht versucht hätte. Also etwas Sinnvolles zu tun. Nach dem Abitur habe ich zunächst eine Ausbildung im öffentlichen Dienst begonnen. Verwaltungsinspektoranwärter. Ausstieg nach fünf Monaten. Dann 13 Monate Zivildienst. Wahrscheinlich das sinnvollste, was ich je getan habe. Es folgte der einjährige Versuch, eine Ausbildung als Kaufmann für Bürokommunikation zu absolvieren. Nun ja, im Grunde ist diese Bezeichnung ein eleganter Euphemismus für das, was man landläufig als „Tippse“ bezeichnet. Als ich in einer Klausur in der Berufsschule gefragt wurde, wie viele Rollen ein Bürodrehstuhl haben muss (fünf),1 realisierte ich, dass ich gewissermaßen unter meinen intellektuellen Möglichkeiten bleiben würde, sollte ich diesen Berufsweg einschlagen.
Eine Evaluation meinerseits, welche akademischen Berufe in Zukunft besonders gefragt sein würden, führte dann dazu, dass ich mich für Elektrotechnik immatrikulierte. Für die Studenten unter Ihnen: Ja, es gab Ende des letzten Jahrtausends tatsächlich noch frei belegbare Studiengänge ohne Numerus Clausus und Bewerbungsverfahren. Nach einem Semester wurde mir klar, dass die bloße Anwendung physikalischer Regeln mich nicht befriedigt. Ich bin ein „Warum“-Mensch. Der „Warum“-Mensch (homo sapiens quare) möchte im Gegensatz zum „Darum“-Mensch (homo sapiens inde)2 gerne wissen, warum etwas so ist, wie es ist.3 Die meisten Menschen, die ich kenne, sind „Darum“-Menschen. Auch wenn ich mich in meinem Leben oft despektierlich über sie geäußert habe, glaube ich fest daran, dass die Fähigkeit, die Dinge so hinzunehmen, wie sie sind, eine wesentliche Voraussetzung für ein erfolgreiches und glückliches Leben ist. Wenn man ständig alles hinterfragt, kommt man deutlich langsamer voran und läuft Gefahr, sich im Labyrinth der möglichen Erklärungen zu verlieren.
Wie auch immer, jedenfalls habe ich mich daraufhin für die Königsdisziplin aller Naturwissenschaften und „Warum“-Menschen eingeschrieben: Physik. Vom Mikrokosmos zum Makrokosmos, ach was rede ich, zum Kosmos selbst. Relativitätstheorie, Quantenphysik, Stringtheorie, Singularitäten, schwarze Löcher, Quasare, Pulsare, Thermodynamik, Entropie, Lichtgeschwindigkeit, Antimaterie. Wahnsinn. Ich habe es geliebt. Und gehasst. Ich habe es geliebt, weil es so unsagbar interessant war und gehasst, weil es verdammt noch mal unbeschreiblich schwer zu verstehen war. Eigentlich nur die Mathematik. Das Problem dabei ist, das Physik eigentlich nur aus Mathematik besteht. Mich hat vor allem die philosophische Komponente gereizt: was ergeben sich für Konsequenzen, z. B. aus der Relativitätstheorie oder der Quantenphysik? Wenn Zeitreisen mathematisch möglich sind, sind sie es dann auch in der Realität? Wenn ich in der subatomaren Welt alleine durch die Beobachtung eines Objektes das Objekt beeinflusse, muss diese Erkenntnis dann nicht auch auf unsere alltägliche Welt übertragbar sein? Schließlich sind gerade diese subatomaren Bausteine das, woraus unsere erlebbare Welt gemacht ist.4
Ich habe ganze 14 Semester in diesem Studium zugebracht. Jede Prüfung, die ich absolviert habe, habe ich beim ersten Versuch bestanden. Aber im Gegensatz zu meinen Kommilitonen bin ich so langsam vorangekommen, dass manch ein Nerd, der früher in der Vorlesung neben mir saß, auf einmal mein Tutor im Experimentalphysik-Grundpraktikum war. Das kann einen frustrieren. Sie müssen wissen, dass ich während meiner Zeit als Physikstudent - auf Schulverhältnisse übertragen – einer von den „Coolen“ war. Party ohne Ende, Vorlesungen schwänzen, auf der Wiese liegen, Sportzigaretten rauchen. Nun ja, ich gebe zu, wenn man den ganzen Tag von Freaks umgeben ist – und glauben Sie mir, Physikstudenten sind Freaks – ist es nicht schwer, als normaler Mensch, mit dem Alter angemessenen sozialen Fähigkeiten und Kontakten, der James Dean der Uni zu sein. Aber eines Tages war ich 30 und so weit von der Geisteshaltung meiner Kommilitonen entfernt, dass es mir fast körperliche Schmerzen bereitete, den Campus zu betreten. Studienanfänger, die meist zehn Jahre jünger waren als ich, musterten mich geringschätzig, wenn sie erfuhren, in welchem Fachsemester ich war. „Was hast Du denn die ganze Zeit gemacht?“ oder „Oh mein Gott, ich würd’ mich erschießen…“ waren noch einige der freundlicheren Aussagen. Das wirklich Schlimme daran war, dass ich mir irgendwann eingestehen musste, dass ich gescheitert war. Ich kam mir vor wie der Typ in dem Film „Top Secret“, der im Zug sitzt und auf einmal realisiert, dass der Bahnhof losfährt.5 Irgend etwas war ziemlich schief gelaufen.
Die Exmatrikulation war ein Befreiungsschlag. Das sprichwörtliche Ende mit Schrecken. Sie geschah freiwillig, allerdings hätte es wahrscheinlich nicht mehr lange gedauert, bis ich wegen eklatanter Überschreitung der Regelstudienzeit von Amts wegen exmatrikuliert worden wäre. Jeder andere hätte seine akademische Karriere wahrscheinlich zu den Akten gelegt. ICH bewarb mich für Deutsche Literatur und Germanistische Linguistik und wurde prompt genommen. Sieben Semester später stand ich mitten in einer Vorlesung auf, verlies den Saal, dann das Gebäude, zündete mir eine Zigarette an und tat das, was ich schon lange hätte tun sollen: ich beschloss, endgültig hinzuschmeißen. Ich weiss, dass das Konzept des Hinschmeißens den meisten von Ihnen fremd ist. Jeder von Ihnen hätte mir geraten, endlich eine Ausbildung zu beenden. Rational betrachtet macht das Sinn. Unglücklicherweise bin ich aber ein sehr impulsiver Mensch. Zudem war ich mittlerweile 34 Jahre alt. Bei Abschluss des Studiums wäre ich voraussichtlich 35, vielleicht 36 Jahre alt gewesen. Mit einem Bachelor of Arts in Literatur und Linguistik. Und mal ganz ehrlich – meinen Sie, das hätte meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt signifikant verbessert? Geisteswissenschaftler sind per se schon Hartz-IV-prädestiniert. Ich bin zusätzlich noch alt. Und nur Bachelor.6 Den Master hätte ich auf keinen Fall mehr gemacht, geschweige denn promoviert.
Aber der eine Grund, der eine wirklich wichtige und wahrhaftige Grund, der dazu führte, das es kam wie es kam, war, dass ich mir eingestand, was ich wirklich sein wollte und im Innersten immer schon war: Künstler. Es gibt nichts anderes in meinem Leben, was ich so ausdauernd betrieben habe. Mit 14 habe ich angefangen, Musik zu machen und Gedichte zu schreiben. Zunächst unbeholfen und mit pubertärem Pathos. Aber ich entdeckte schnell, dass die Kunst ein wunderbarer Weg war, der außerdem meiner Veranlagung sehr entgegen kam. Was soll ich sagen, ich bin nun mal Egozentriker, vielleicht sogar Egomane.7 Mit ca. 18 Jahren wurde bei mir außerdem eine manisch-depressive Störung diagnostiziert, die bis heute unbehandelt blieb, weil ich Psychotherapie für Schwachsinn halte. Das Einzige, was sie bewirkt, ist, dass der zu therapierende eine Opferrolle einnimmt, die er auf Jahre nicht mehr los wird.8
Wie auch immer, auf jeden Fall perfekte Voraussetzungen für eine Karriere als Künstler: selbstbezogen, ein bisschen ga-ga, emotional. Es gibt nicht viel, worauf ich mir etwas einbilde, aber ich glaube, ich bin relativ intelligent.9 Und ich glaube daran, dass ich der Welt etwas mitzuteilen habe. Nichts, was in einer post-apokalyptischen Welt von Bedeutung wäre, aber hey – noch sind wir alle da. Sie halten nun also einen Text in den Händen, der genau genommen wertlos ist, wenn man von konventionellen Maßstäben ausgeht. Ich bin weder Professor, noch bin ich sonst in irgend einer Weise außerordentlich erfolgreich. Ich kann vieles, aber fast nichts richtig. Ich bin faul. Ich lebe nach dem Prinzip, mit minimalem Aufwand maximale Lebensfreude zu erfahren. Aber es gibt eine Sache, die ich perfektioniert habe: Denken. Nicht positives Denken oder irgend ein anderer Motivations-Schrägstrich-Wie-werde-ich-glücklich-Schwachsinn. Auch nicht An-rosa-Elefanten-Denken oder das leise Geplapper, das jeder von uns ständig im Kopf hat. Jeder denkt ständig. Ist schon klar. Ich meine DENKEN.10 Nachdenken über das „Warum“. Über das „Wie“ und „Wozu überhaupt“. Oder „Geht das auch anders“. Ich denke darüber nach, wie man denkt. Und darüber, wie man über das Denken nachdenkt. Würde es Sinn machen, würde ich darüber nachdenken, wie man darüber nachdenkt, über das Denken nachzudenken. Ich denke, Sie haben verstanden, dass Denken das Einzige ist, was ich wirklich richtig gut kann. Die Kunst, insbesondere das geschriebene Wort und die Musik, ist für mich der einzige Weg, wie ich das alles rauslassen kann. Sie11 ist das Instrument, auf dem meine Gedanken spielen können. Wie sich in jahrelangen Versuchen herausgestellt hat, ist es das einzig sinnvolle, was ich mit meinem Leben anstellen kann.12
In diesem Sinne heiße ich Sie herzlich willkommen zu meinem ganz persönlichen und egoistischen Erguss über „Die Kunst des Denkens“. Es gibt keine Handlung im herkömmlichen Sinne. Keine Fabel.13 Es ist weder ein Ratgeber, noch ist es Belletristik.14 Literatur schon gar nicht. Es ist ein fiktiver Tatsachenbericht, der auf wahren Begebenheiten beruht. Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und vollkommen absichtlich.
Willkommen in meiner Welt.
- Kennen Sie das, wenn man ein Wort aufschreibt oder es sich immer wieder vorsagt, dass es auf einmal total sinnentleert vor einem steht und sich ganz seltsam anfühlt? Fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf. Sie verstehen, was ich meine, oder? [↩]
- Ich habe tatsächlich in meinem Abitur noch das sog. „große Latinum“ erlangt. Die Bezeichnungen „homo sapiens quare“ und „homo sapiens inde“ sind allerdings frei erfunden und darüber hinaus sogar möglicherweise falsch, da – wie jeder, der das Latinum hat, weiß – auch eine fünfjährige schulische Ausbildung in Latein Sie letzten Endes nur dazu befähigt, ein lateinisches Wörterbuch zu benutzen. Da aber schon seit hunderten von Jahren niemand mehr Latein spricht, gibt es auch keine Muttersprachler, die mit Sicherheit sagen können, welche Vokabel in diesem Kontext die richtige wäre. Ich bitte alle humanistisch gebildeten Leser daher um Entschuldigung und Verständnis, falls meine Wortwahl fragwürdig ist. [↩]
- Das war jetzt trivial, ich weiß. [↩]
- Wenn Sie mehr über genau dieses physikalische Problem wissen möchten, sollten Sie mal „Schrödingers Katze“ googeln. Oder einfach weiterlesen. Ich komme evtl. noch einmal darauf zurück. [↩]
- „Top Secret“ ist eine wahrhaft wunderbare Komödie von Jim Abrahams und David Zucker aus dem Jahr 1984. Val Kilmer spielte die Hauptrolle und wenn ich mich richtig erinnere, ist er der besagte Typ im Zug. [↩]
- Polemisch gesprochen könnte man sagen, der Bachelor ist im Vergleich zum Master das, was das gleichnamige Sendeformat von RTL im Vergleich zu einer beliebigen Sendung auf Arte ist. [↩]
- Der Egomane im Gegensatz zum Egozentriker sieht sich nicht nur als Zentrum allen Geschehens, sondern er hat eine krankhafte Neigung dazu. Er tut dies also nicht aus freien Stücken, sondern er kann nicht anders. Also niemand, mit dem man gerne Zeit verbringen möchte. [↩]
- Das einzig Interessante wären evtl. die verschreibungspflichtigen Upper und Downer gewesen. [↩]
- Ja, ich gebe zu, ich kokettiere etwas damit. Eigentlich halte ich mich für überaus intelligent. Ich möchte Sie allerdings nicht verschrecken. [↩]
- Abwertend könnte man auch Grübeln sagen. [↩]
- Die Kunst! [↩]
- Sinnvoll für mich. Für eine hypothetische post-apokalyptische Gesellschaft wäre das Ganze wie bereits erwähnt so sinnvoll wie ein zweites Arschloch am Hinterkopf. Ich erwähnte bereits, dass ich Egomane bin? [↩]
- Schöne Grüße an Aristoteles. [↩]
- Sollte dieser Text wider Erwarten in der SPIEGEL-Bestsellerliste landen, wünsche ich viel Erfolg bei der Kategorie-Zuordnung. [↩]