Blind-Date-Bloggen #2: Der Kartoffelkäfer

Kartoffelkäfer - Alexander von Halem - Flickr - CC BY 2.0

Kartoffelkäfer - Alexander von Halem - Flickr - CC BY 2.0

Stellt euch vor, ihr müsst über ein Thema schreiben, das euer sadistischer Kollege aussuchen darf, von dem ihr absolut keine Ahnung habt und das euch im besten Fall voll ankotzt – Minimum 5000 Zeichen. Man muss schon ein wenig kaputt im Kopf sein, um sich das anzutun. Passt also perfekt zu uns. Herzlich willkommen zum Blind-Date-Bloggen!

Thema heute: “Der Kartoffelkäfer” (oder: “Warum es gut für uns wäre, wenn der ‘Islamische Staat’ gezielt Filzläuse im Westen verbreiten würde”)

Für die Premiere unseres sadistisch-masochistischen Blogging-Experiments hatte sich Marvin dank mir ja mit den süßen Söhnen heißer Celebrity-Dads auseinandersetzen dürfen. Da er diese Aufgabe leider mit Bravour bewältigt hat, bin jetzt ich an der Reihe. Das Thema, das Marvin mir aufgebrummt hat, lautet: “Der Kartoffelkäfer”. Fühlt sich erstmal an wie ein Referats-Thema in der Grundschule. Na dann wollen wir doch mal sehen, ob sich daraus ein Blog-Beitrag machen lässt. 5000 Zeichen, counting from HERE!

Gestatten: Leptinotarsa decemlineata

Bringen wir kurz die Formalitäten hinter uns. Der Kartoffelkäfer heißt auf Latein Leptinotarsa decemlineata, hat schwarz-gelbe Streifen und stammt ursprünglich aus dem nördlichen Mittelamerika. Und ja, er isst gerne Kartoffeln. So gerne gar, dass er als Schädling gefürchtet ist – das gelb gestreifte Kerbtier und seine Brut können binnen weniger Tage ein komplettes Kartoffelfeld wegmampfen.

Das Merkwürdige am Kartoffelkäfer: Ursprünglich hat er sich gar nicht von Kartoffeln ernährt. Seine Heimat lag zu weit im Norden – die Ur-Kartoffeln wuchsen ausschließlich in den Anden. Stattdessen stillten die ersten Kartoffelkäfer ihren Mordsappetit an den Stauden des Stachel-Nachtschattens – einer Pflanze, die uns Homo Sapiens als Unkraut gilt.

Was also ist passiert? Wieso fängt ein Tier, das nützlicherweise unnütze Pflanzen frisst, plötzlich an, eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel im großen Stil zu vertilgen? Die Antwort ist so einfach wie verblüffend: Schuld ist der westliche Imperialismus. In ihrem unreflektierten Expansionswahn pumpten die europäischen Nationen Welle auf Welle weißer Siedler in die “Neue Welt”. Diese brachten nicht nur die Ureinwohner (und einander) in Scharen um, sondern quirlten durch ihr vieles Hin- und Hergereise und Die-Erde-Untertan-Gemache auch die Flora und Fauna Amerikas einmal ordentlich durch.

Die Kartoffelpflanze nahmen sie aus den Anden mit und pflanzten sie überall dort an, wo sie sich niederließen – auch im ursprünglichen Herkunftsgebiet des Kartoffelkäfers. Und so kam das arme, unschuldige Ding, das über Jahrzehntausende nichts anderes gewollt hatte, als harmlos und bescheiden am Stachel-Nachtschatten zu knabbern, an seine Droge: Die Kartoffel.

Kapitalisten-Kerbtier außer Kontrolle

Es ist ja fast eine Konstante des Imperialismus angloamerikanischer Ausprägung: Die Yanks brachten das Feuerwasser zu den amerikanischen Ureinwohnern, das Fast Food zu den Mexikanern – und die Kartoffel zum Kartoffelkäfer. In allen drei Fällen entstanden hier Konsumenten-Konsummittel-Konstellationen, die explosive Folgen hatten.

Infolge des Siegeszugs der Kartoffel im westlichen Kulturkreis war es nur eine Frage der Zeit, bis der Kartoffelkäfer an Bord eines Schiffes aus Amerika in Europa landete. Ebendies geschah Ende des 19. Jahrhunderts – mit zum Teil verheerenden Auswirkungen. Wie das eben so ist, wenn eine neue Spezies in ein unvorbereitetes Habitat eingeschleppt wird, breitete sich der Kartoffelkäfer in heftigen Schüben in ganz Europa aus und vernichtete immer wieder ganze Kartoffelernten – mit existenziellen Folgen für die Nahrungsmittelversorgung.

Man könnte also argumentieren, dass der Kartoffelkäfer die dunkle Seite der imperialistisch geprägten Globalisierungsmedaille ist: Eine amerikanische Knolle wird aus den Kolonien eingeführt, die europäische Wirschaft macht sich selbst abhängig von ebendieser Knolle, und daraufhin schleppen transatlantische Händler den zugehörigen transatlantischen Schädling ein, der selbst auch gerade erst entdeckt hat, dass Kartoffeln viel geiler sind als Stachel-Nachtschatten.

Und dann sag noch einer, der imperialistisch-kapitalistische Komplex produziere seine zyklischen Krisen nicht selbst! Wären die Europäer doch einfach mal aus Amerika weggeblieben. Der schwarz-gelb (!) gestreifte Schädling ist die Folge des ungehemmten Expansionsdrangs und Europas Strafe für den imperialistischen Sündenfall.

„Sei ein Kämpfer, sei kein Schläfer, acht’ auf den Kartoffelkäfer!“

Auf der anderen Seite demonstriert der Kartoffelkäfer und seine Rezeption in unseren Breiten aber auch, wie dankbar für die kollektive Psyche ein handhabbarer, bekämpfbarer Feind von außen ist.  Wer wüsste das besser als wir Deutschen? Folgerichig gab es bei den Nazis dann auch einen “Kartoffelkäfer-Abwehrdienst” (KAD) der deutschen Wehrmacht (kein Witz!), der sich um die Mobilmachung von Schulkindern gegen den gestreiften Schädling kümmerte.

Sowohl die Nazis als auch später die SED verbreiteten in der Bevölkerung, dass der Kartoffelkäfer (in der DDR wenig liebevoll “Amikäfer” genannt) systematisch von US-amerikanischen Flugzeugen über teutschem Boden abgeworfen werde, um teutsche Kartoffeln zu schädigen und so die teutsche Plauze krisenhaft zu dezimieren.

In der DDR gab es neben umfassender “Volksinformation” über die wahren Klasseninteressen des Kartoffelkäfers sogar “Sondersuchtage”, an denen die Bevölkerung – vom Grundschüler bis zur Greisin – fröhlich durch Feld und Flur ziehen und so viele der antisozialistischen Krabbeltiere wie möglich in freimütig von der Partei verteiltem Spiritus ertränken sollte. Historische Fotos zeigen sogar, dass die Kinder, die die meisten kleinen Käferleichen vorweisen konnten, besonders geehrt wurden.



Irgendetwas an dem Bild, wie eine  Gemeinschaft von Menschen in der festen Überzeugung, das Böse zu bekämpfen, Hand in Hand durch Felder streift und zu hunderttausenden Käfer in Spiritus ertränkt, hat mich zutiefst gerührt. Ist es nicht genau diese Form von behaglich-zivilgesellschaftlicher Gemeinschaft durch Kampf, durch Ausrottung, durch rechtschaffenes Vernichten des Feindlichen im Alltag, die uns heute fehlt?

Wir vereinzelten, hedonistischen Glückssucher und Selbstoptimierer wissen doch gar nicht mehr, was es heißt, Seit’ an Seit’ mit der mürrischen Frau Müller von nebenan pflichtschuldig auf die große Käferhatz zu gehen – und am Ende des Tages vielleicht sogar ein warmes, anerkennendes Blitzen in den Augen ebenjener sonst so schroffen Frau Müller zu sehen, wenn sie der schieren Anzahl der im Spiritus treibenden Käferleichen gewahr wird. In dem Moment ist es völlig egal, dass die Geschichte mit den US-Fliegern, die die Käfer abwerfen, zu 99,99% Bullshit ist. Was zählt, ist der psychologische Effekt.

“Juckt’s und brennt’s dir am Gemächt,  hat sich der IS gerächt!”

Deshalb sage ich: Wir brauchen einen Feind – ein zeitgemäßes Kartoffelkäfer-Äquivalent. Bedrohlich, perfide, abscheulich, aber beherrschbar. Wir brauchen Wesen aus unserer Lebenswelt, in denen wir das Andere, Fremde, Feindliche erkennen können, und mit denen wir instinktiv kein Mitleid empfinden.

Wenn ich zu einem westlichen Geheimdienst gehörte, wäre das Konstruieren einer solchen Feindschaft meine allererste Amtshandlung. Wie wäre es damit: “Die Schergen des IS verbreiten bewusst Filzläuse unter Westlern, um uns für unseren hedonistischen Lebenswandel zu bestrafen”?

Ich sehe das alles schon vor mir: Schulkinder und Rentner, vereint im Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie und juckreizfreier Körpermitte, durchkämmen in großangelegten, systematischen Aktionen mit feinzinkigen Kämmen die Schamhaare der geschlechtsreifen Bevölkerung. Es gibt Coca Cola und Plakate, die zur patriotischen Intimrasur aufrufen (“Weil Ute unten haarig ist, triumphiert der Salafist!” oder so), und die Menschen kommen endlich mal wieder ins Gespräch. Und Frau Müller freut sich erst recht, weil sie endlich auch mal wieder untenrum angefasst wird.

*Hach* …

Brauchen wir nur noch ein paar unumstößliche Beweise, die die Filzlaus mit dem radikalen Islamismus verknüpfen … hmmm …

Filzlaus – gemeinfrei, Bearbeitung: weltenschummler - CC BY-SA 3.0

Filzlaus – gemeinfrei, Bearbeitung: weltenschummler - CC BY-SA 3.0

So, Marvin. Dein nächstes Blind Date, da ich schonmal so schön untenrum drauf bin gerade: “Der rote Faden: eine kleine Kulturgeschichte der Menstruation”.

Gnihihihihi … (Ich bin übrigens nicht pubertär. Man kann mit Anfang 30 gar nicht pubertär sein.)


Daniel Siegmund
Schreiberling mit halbwegs kontrollierter Tastatur-Tourette. Concerned but powerless. Musiker, Teilzeithippie und Linksträger. Kann sich nicht an das Ende von “Fear and Loathing in Las Vegas” erinnern. Copilot von Weltenschummler.
Daniel Siegmund
  • Daniel Siegmund

    Na, Marvin, wo ist denn die Kulturgeschichte der Menstruation? ^_^

    • Ich, ehm, ja… bald. Und meine Rache wird fürchterlich sein muahaha.

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