Man sollte meinen, eine verfolgte Minderheit wäre dazu prädestiniert, besonders sensibel in Bezug auf Ausgrenzung zu sein und alles dafür zu tun, in ihren eigenen Reihen eine Atmosphäre der Toleranz zu erschaffen. Dafür ist die russische Schwulenszene leider zu scheiße.
Vor einiger Zeit bin ich unverhofft in eine Performance des Künstlers Mischa Badasyan hineingestolpert und habe dann auch gleich einen Artikel darüber geschrieben. Obwohl (oder weil?) der Artikel nicht gerade vor Fachkenntnis und kulturjournalistischer Brillianz trieft, war Mischa ganz angetan und hat mich für sein nächtes Projekt an Bord geholt. Mittlerweile würde ich nicht zögern, ihn als Freund zu bezeichnen – und gleichzeitig finde ich das Projekt, an dem ich mitarbeiten darf, extrem spannend. Es geht um schwulen Sex, Dating und Einsamkeit.
Ficken am Fließband: 365 Sexdates für die Kunst
Vielleicht seid ihr sogar im Netz schon über den einen oder anderen Artikel zu der Performance gestolpert, denn “Save the Date” schlägt gerade ganz schön Wellen. Andere haben schon ausgiebig über das Projekt berichtet (DIE WELT | Huffington Post | VICE London | MONOPOL | MTV), deshalb hier nur eine kurze Zusammenfassung:
Seit dem 1. September datet Mischa täglich – für 365 Tage – eine andere Person, um sich der Leere und Beliebigkeit der modernen Dating-Kultur zu stellen. Inspiriert von Marc Augés Theorie der “Non-Places” – das sind Orte wie Bahnhöfe, Flughäfen und Supermärkte, an denen reine Funktionalität alles Zwischenmenschliche überdeckt – spürt er dem Zusammenhang von urbaner Kultur, Online-Dating in der LGBT-Szene und Einsamkeit nach. “Save the Date” ist ein Versuch, einen eigenen “Non-Place” zu erschaffen, der sich aus den geistigen, emotionalen und physischen Mitbringseln aus 365 Sex-Dates zusammensetzt.
So weit, so spannend. Wie nicht anders zu erwarten, erfährt Mischa aus der deutschen und internationalen Schwulenszene viel Unterstützung. Ein schwuler Filmemacher begleitet sein Projekt, Schwulenmagazine wie die Siegessäule arbeiten mit ihm zusammen, und viele Schwule, die von dem Projekt hören, melden sich freiwillig, um einer der 365 Herren sein zu dürfen.
In Soviet Russia, gay scene excludes you!
Um so überraschter war ich, als Mischa mir einen Beitrag der wichtigesten russischen Gay-Plattform gay.ru zu seinem Projekt zeigte. Neben einem eher oberflächlichen Info-Artikel zu “Save the Date” haben die Autoren eine Umfrage für gay.ru-Mitglieder konzipiert. Diese liest sich wie folgt (Danke an Petra für die Übersetzung!):
Umfrage:
Wärt ihr bereit, am Projekt “Save the Date” teilzunehmen und einer der 365 jungen Herren zu werden?
- Ja, ich bin für alles zum Wohle der Kunst bereit (9,9%)
- Wenn der Künstler hübscher wäre, dann ja (25,6 %)
- Ich würde nur mit ihm schlafen (11,8 %)
- Nein, moderne Kunst mag ich nicht (10,9 %)
- Sex mit Armeniern ist ein No-Go! (41,9%)
Mal ehrlich. WHAT THE FUCK??! Kaum eine Menschengruppe dürfte im heutigen Russland so viel Hass, Ausgrenzung, Gewalt und Verfolgung erleben wie Homosexuelle. Wenn ihr euch nochmal den Grad der staatlich tolerierten Menschenverachtung in Putins Reich vergegenwärtigen wollt, schaut euch zum Beispiel dieses Video von Human Rights Watch an. (Warnung: Harter Tobak. Ich konnte es mir nicht komplett ansehen.)
UND DANN STELLEN SICH DIESE ARSCHKÖPFE HIN UND MACHEN DAS GLEICHE, WEIL EINER IHREN FASCHISTOIDEN SCHÖNHEITSIDEALEN NICHT ENTSPRICHT – ODER WEIL ER ARMENISCHER ABSTAMMUNG IST???!! Und zwar MEHR ALS DIE HÄLFTE der teilnehmenden Leser??
Aua. Mein Glauben an die Menschheit.
Sorry. In dem Moment, als ich das gelesen habe, ist was in mir zerbrochen. Haben die Jungs keine Spiegelneuronen? Merken die nicht, dass sie unreflektiert die psychische Gewalt weitergeben, der sie ausgesetzt sind? Ist denen nicht klar, dass eine Vernetzung mit der internationalen LGBT-Szene nach den Regeln von Akzeptanz und Respekt ihre einzige Chance ist, die aktuellen Repressionen irgendwie zu überstehen?
Es juckt mir in den Fingern, einen unverzeihlichen Satz zu schreiben, der womöglich lauten könnte: “Wenn einer der Redakteure oder die Arschlöcher, die die beleidigenden Antworten angeklickt haben, morgen von einem selbsternannten Milizenmob zusammengeschlagen und im Netz öffentlich erniedrigt würden, wäre das einfach nur Karma.” Aber sowas würde ich natürlich nie schreiben – wenn ich auch noch so wütend wäre.
Mischa lässt sich zum Glück nicht beirren – auch wenn ihm anzumerken war, dass die Umfrage ihn getroffen hat. Man muss auch dazusagen, dass er sich gerade nur dank eines Künstlervisums in Deutschland aufhalten kann und möglicherweise in einem Jahr zurück nach Russland muss.
Im Ernst: Ich würde gerne verstehen, was da los ist. Hat einer von euch Erfahrungen mit der russischen Gay-Community und kann mir erklären, warum die so ticken? Dann freue ich mich über Kommentare. Ich kehre derweil das Scherbenhäufchen zusammen, das mal mein Glauben an die Menschheit war. Hat jemand Sekundenkleber?