Jahrelang dachte ich, ich wäre allein mit meinem geheimen Wunsch, die Menschheit zum freiwilligen Aussterben zu bewegen. Und ausgerechnet eine Krimiserie hat mich eines Besseren belehrt – mit ernüchterndem Ergebnis.
Stellt euch folgendes Szenario vor: Es ist das Jahr 2086. Seit einer Generation haben sich die Menschen darauf geeinigt, dass es das Beste für die Welt und die Menschheit ist, wenn es keine Menschen mehr gibt. Die letzten Überlebenden teilen sich die Ressourcen, die noch da sind – Ansparen und langfristige Politik machen eh keinen Sinn mehr. Es ist genug für alle da – und das mit jedem Jahr mehr, denn wir werden immer weniger. Die Menschen schließen sich zu lockeren, zwanglosen Grüppchen zusammen, die gemeinsam das tun, was ihnen Spaß macht. Künstlerkollektive haben Bürotürme in riesige Skulpturen verwandelt, in denen sie leben und arbeiten. Hedonisten veranstalten aufwändige Partys in unbenutzten Lagerhallen, in Kathedralen und auf Containerschiffen. Pilgergruppen ziehen von Ort zu Ort, um vor dem Ende der Menschheit noch einmal so viel wie möglich von unserem Planeten zu sehen. Und der Anblick ist schön: In den entvölkerten, langsam verfallenden Städten und Dörfern wuchert die Vegetation, und langsam erobern Füchse, Rehe und Wildschweine Europa zurück. Es gibt keine Kriege mehr, denn Raum, Nahrung und Ressourcen sind im Überfluss vorhanden – und es wird keine kommenden Generationen mehr geben, denen man Land, Macht und Kultur vermachen müsste.
Ein paar Jahre später: Die letzten Überlebenden haben sich in der letzten bewohnten Stadt versammelt. Sie reden viel miteinander. Schauen sich Sonnenuntergänge von den Dächern der Wolkenkratzer aus an. Erzählen einander von ihren Erlebnissen, ihren Vorfahren. Es gibt nur noch Vergangenheit und Gegenwart. Alle sind alt, und niemand ist alleine. Einer nach dem anderen wird von seinen Freunden liebevoll in den Tod begleitet. Und der Letzte macht das Licht aus. The End.
Hach! Ich weiß: Das ist naiv, kitschig und irgendwie auch latent misanthropisch. Trotzdem verfolgt mich diese Fantasie seit meinem 16. Lebensjahr. Manchmal habe ich mir sogar vorgestellt, eine Sekte und/oder politische Bewegung zu begründen, die sich unser freiwilliges gemeinsames Aussterben auf die Fahnen schreibt und versucht, die Menschheit von der Idee zu überzeugen. Völlig gewaltfrei und ohne Zwang, versteht sich.
Manchmal, ganz selten, glaube ich sogar daran, dass unsere Existenz ein Test ist – und unser gemeinsames „opt-out“ die einzige Möglichkeit, diesen zu bestehen. Dass da oben gerade irgendwer sitzt, zuschaut und denkt: „Ihr seid doch eigentlich auf einem guten Weg: Nach und nach legt ihr eure tierhaften Triebe ab – ihr kämpft gegen Aggression, Egoismus und Intoleranz an, obwohl ihr darauf programmiert seid. Warum vollendet ihr nicht ENDLICH eure Emanzipation vom Kreatürlichen und befreit euch von dem stumpfen Trieb, euch zu vermehren? Checkt’s doch endlich!“ Und der letzte Mensch wird nach seinem Tod am Eingang zum Nirvana mit einer Flasche Rosé, Schnittchen und Konfetti empfangen: „Wurde ja auch echt Zeit! Herzlichen Glückwunsch, mission accomplished! Willkommen auf der nächsten Bewusstseinsebene!“
So viel zu meinen Tagträumen. Warum ich über das Thema schreibe: Ich dachte immer, dass es ziemlich abnormal und auf keinen Fall gesellschaftsfähig ist, solche Gedanken zu haben – geschweige denn zu äußern. Aber ausgerechnet in meiner neuen Lieblingsserie „True Detective“ hält der Protagonist, Detective Rustin Cohle – großartig dargestellt von Matthew McConaughey – einen beeindruckenden Monolog zu genau diesem Thema:
I think human consciousness is a tragic misstep in evolution. We became too self-aware. Nature created an aspect of nature separate from itself. We are creatures that should not exist by natural law. We are things that labor under the illusion of having a self. Just an accretion of sensory experience and feeling, programmed with total assurance that we are each somebody - when in fact everybody’s nobody. I think the honorable thing for our species to do is: deny our programming. Stop reproducing. Walk hand in hand into extinction. One last midnight, brothers and sisters opting out of out ordeal.
Ein Übersetzungsversuch:
Ich halte das menschliche Bewusstsein für einen tragischen Fehler der Evolution. Wir wurden uns unserer eigenen Existenz zu bewusst. Die Natur hat einen Aspekt ihrer selbst geschaffen, der von der Natur abgetrennt ist. Wir sind Wesen, die nach den Gesetzen der Natur nicht existieren dürften. Wir sind Dinge, die sich mit der Illusion abmühen müssen, ein Selbst zu haben. Jeder von uns ist eine Anhäufung von Sinneswahrnehmungen und Gefühlen, programmiert auf die absolute Gewissheit, jemand zu sein – obwohl eigentlich niemand jemand ist. Vielleicht wäre es das Ehrenhafteste, was unsere Spezies tun könnte, sich unserer Programmierung zu widersetzen. Aufzuhören, uns zu vermehren. Hand in Hand in unsere Auslöschung zu gehen. Eine letzte Mitternacht – als Brüder und Schwestern gemeinsam und freiwillig unser Leid zu beenden.
Diese Szene hat mich so berührt, dass ich sie gleich mal samplen und ein Instrumentalstück drumrumbasteln musste.
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Daraufhin haben mich Freunde darauf angesprochen – und mich darauf aufmerksam gemacht, dass es tatsächlich eine Bewegung gibt, die sich genau dieser Mission verschrieben hat: das „Voluntary Human Extinction Movement“! Nach der Lektüre des Wikipedia-Artikels zum Thema und ein bisschen Rumgesurfe auf deren Website muss ich sagen: Irgendwie sind die eine Enttäuschung. Das sind leider Öken, die das wegen Mutter Natur (die schreiben tatsächlich über „Gaia“!!) machen. Gähn. Keine Tragik, keine Suche nach Erleuchtung und Überwindung der menschlichen Beschränktheit. Einfach nur seltsame, unbeholfene Eso-Öken. Und die Website ist irgendwie so … piefig! Die werben mit Bumper Stickern und kleinen Promoständen auf Schulfesten für den Verzicht auf Vermehrung. Njääää …
Irgenwie eine große Enttäuschung. Da hat man einen euphorischen Moment und denkt: Gibt es da etwa eine ernsthafte Bewegung, die meine heimlichsten Sehnsüchte teilt und ernsthaft zur Realität machen will? Und dann die Jungs und Mädels … So sieht es also scheinbar aus, wenn kitschig-romantische Träume versuchen, sich in die Realität reinzudrücken. Ernüchternd und ein bisschen beschämend.
Gibt es eine Moral von der Geschicht’? Vielleicht diese: Kitschige Träume sollten ruhig kitschige Träume bleiben, in dieser Sphäre erfüllen sie sicher eine sinnvolle psychologische Rolle. Vermutlich sagt meine Fantasie einiges über mich aus – zum Beispiel, dass ich Angst vor der extrem relativierenden Vorstellung habe, einfach nur ein winziges Bindeglied in einer unendlichen Reihe sich blind und ziellos fortpflanzender Homo Sapiens zu sein. Die Lust am bitterüßen Ende ist wahrscheinlich unterm Strich nichts weiter als ein aufs Kollektiv projizierter Narzissmus – ein Trick, um der eigenen Existenz eine tragisch-romantische Dimension abzugewinnen. Mal ganz abgesehen davon, dass mir durchaus klar ist, das irgendwelche Hoschis mit Sicherheit heimlich eine Art Kinderkriege-Guerilla gründen und mir mein dramatisches Ende versauen würden.
Was bleibt also? Vermutlich werde ich meine Fantasie irgendwann mit Ende 40 in einen kitschigen, mittelmäßigen Roman verwandeln, der dann im Selbstverlag herausgebracht wird und sich ca. 13 mal verkauft. Ist doch auch ne Zukunftsperspektive.